Papier kritisiert neues Corona-Gesetz als "Persilschein" für Regierung

Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, hat den Gesetzentwurf der Großen Koalition im Bundestag für neue gesetzliche Grundlagen der Beschränkungen in der Corona-Pandemie als "Persilschein" für die Bundesregierung bezeichnet. Die Vorschläge seien unzureichend, so Papier gegenüber der "Neuen Osnabrücker Zeitung" (NOZ). "Unerlässliche Abwägungsentscheidungen" müssten vom Parlament getroffen werden.

Regeln des Entwurfs entsprechen nicht dem Sinn eines Parlamentsvorbehalts

Im Interview mit der NOZ sagte Papier: "Ich begrüße es, dass die Parlamentarier sich nun nach einem Dreivierteljahr dieses Themas annehmen. Allerdings sind die aktuellen Vorschläge auf der Bundesebene meines Erachtens nicht hinreichend." Zwar würden alle denkbaren Grundrechtsbeschränkungen in 15 Einzelnummern speziell aufgeführt. "Die unerlässlichen Abwägungsentscheidungen zwischen den divergierenden Schutzgütern der Gesundheit einerseits und den Freiheitsrechten andererseits werden damit aber gerade nicht dem Parlament vorbehalten, sondern in vollem Umfang an die Exekutive delegiert. Diese behält nach wie vor insoweit einen Persilschein. Dem Sinn und Zweck des grundgesetzlichen Parlamentsvorbehalts ist damit meines Erachtens nicht entsprochen", sagte Papier der NOZ.

Papier schlägt parlamentarisch zu bestätigende Eilverordnungen vor

Abgeordnete der Großen Koalition argumentieren laut NOZ, man wolle der Regierung in der Pandemie schnelle Entscheidungen ermöglichen. Papier dagegen sieht keinen Grund, deswegen auf Beratung und Beschlussfassung des Parlaments zu verzichten. "Dem Zeitargument könnte dadurch Rechnung getragen werden, dass der Exekutive eine Eilkompetenz für befristete oder vorläufige Regelungen eingeräumt wird. Denkbar wäre die Notwendigkeit parlamentarischer Bestätigung solcher Eilverordnungen", schlage der ehemalige BVerfG-Präsident vor.

Rechtssicherheit durch Entscheidung des BVerfG

"Es gäbe sicher auch mehr Akzeptanz für die Maßnahmen, wenn sie besser begründet wären und in einem öffentlichen und transparenten Diskurs beschlossen werden. Das wäre besser als diese in einem engen Zirkel beschlossenen Ad-hoc-Regelungen", zitiert die NOZ Papier weiter. Diesem zufolge könnte außerdem durch die Beteiligung des Parlaments Rechtssicherheit geschaffen werden. "Wenn der Gesetzgeber, also auf Bundesebene der Bundestag, Grundrechtseinschränkungen beschließt, dann könnten diese allein vom Bundesverfassungsgericht und nicht von einzelnen Gerichten wegen Verfassungswidrigkeit verworfen werden." Der Bundestag habe es bislang versäumt, den verfassungsrechtlichen Anforderungen bei den Maßnahmen zu genügen. "Auch der neuerliche Ergänzungsvorschlag für das Infektionsschutzgesetz würde daran nichts ändern, denn die Anordnung von Beschränkungsmaßnahmen würde nach wie vor durch Verordnungen erfolgen, die der verwaltungsrechtlichen Überprüfung unterliegen", stellte Papier klar.

Papier fordert auch Rechtssicherheit für Entschädigungen

Außerdem hält Papier eine gesetzliche Regelung der Entschädigungsleistungen und Hilfen für Unternehmen und Selbstständige in der Corona-Pandemie für dringend geboten. "Ich vermisse eine gesetzliche Regelung des finanziellen Ausgleichs etwa für Unternehmen und Selbstständige, soweit sie mit einem Öffnungs- oder Betätigungsverbot belastet werden, egal ob ihre Tätigkeit ein erhöhtes Infektionsrisiko begründet", sagte Papier der NOZ.

Redaktion beck-aktuell, 9. November 2020.